Kategorie Mobilität - 5. September 2019

Abbiegeassistenten: Hilfe zur Nachrüstung & in Wien de-facto-Fahrverbot für Lkw ohne

Lkw-Abbiegeassistenten werden in der EU 2022 für neu zugelassene Fahrzeuge Pflicht. Spätestens ab 2023 sollen keine Neufahrzeuge ohne diese Technik in Betrieb gehen. Entsprechende Vorschriften wurden bereits im Frühjahr von den zuständigen Ausschüssen im EU-Parlament abgesegnet. Die Systeme sollen die Personen am Steuer auf Fußgänger und Radfahrer im toten Winkel aufmerksam machen und Unfälle verhindern.

Lkw-Abbiegeassistenten müssen somit erst ab 2022 im Typenschein genehmigt und ab 2023verpflichtend für Neufahrzeuge in Betrieb genommen werden. Dabei wird die Technik jedoch auf neue Lkw begrenzt bleiben. Für einen nachträglichen Einbau in den Lkw-Altbestand gibt es bisher keine Pläne auf EU-Ebene, weshalb es länger dauern könnte, bis alle auf den Straßen fahrenden Lkw damit auch ausgestattet sind.

© Daimler

Zu Jahresbeginn hatte es auch in Österreich eine emotionale Debatte um solche Assistenzsysteme gegeben. Nachdem ein neunjähriger Bub in Wien auf dem Schutzweg von einem Lkw getötet worden war sowie kurz darauf in der Stadt Salzburg eine 24-jährige Radfahrerin bei einem Unfall mit einem rechts abbiegenden Lkw starb, kam es neben dem sogenannten Lkw-Sicherheitsgipfel auch zur Initiierung einer Petition pro verpflichtender Abbiegeassistenten, die knapp 75.000 Menschen unterzeichneten.

Der Gipfel indes endete mit dem Ziel, eine freiwillige Ausrüstung neuer Lkw sowie die freiwillige Nachrüstung von Rechts-Abbiegeassistenzsystemen in Bestandsfahrzeugen zu fördern, um bereits ab 2019 die allgemeine Verkehrssicherheit zu erhöhen. Frächter, die ihre Lkw freiwillig nachrüsten, sollen finanziell unterstützt werden.

Seit 2. September 2019 sind diese Förderungen für die freiwillige Nachrüstung von Lkw mit Abbiegeassistenten nun verfügbar. Insgesamt eine Million Euro stehen für Unternehmen zur Verfügung. Bis zu 25 Prozent oder maximal 900 Euro der Kosten pro Umbau werden übernommen.

Ab dem Schulstart können Unternehmen mit Lkw-Flotte auf schig.at um die Unterstützung ansuchen. Gefördert werden Systeme, die als Grundvoraussetzung Radfahrer erkennen und den Lenker vor Kollisionen mit diesen warnen. Systeme, die darüber hinausgehen, können jedoch ebenfalls gefördert werden, sofern die Grundfunktionen erfüllt sind.

„Verkehrssicherheit und vor allem jene der Kinder im Straßenverkehr muss uns allen ein Anliegen sein. Mit dieser Förderung, die ab 2. September beantragt werden kann, setzen wir einen wichtigen Schritt in diese Richtung“, sagte Verkehrsminister Andreas Reichhardt.

Gefördert werden System- und Einbaukosten von Abbiegeassistenzsystemen sowohl bei der Nachrüstung von Kfz als auch als ausgewiesene Ausstattung bei Anschaffung von Neufahrzeugen. Finanziert wird die Regelung durch die Rücklagen des Verkehrssicherheitsfonds.

De-facto-Fahrverbot in Wien

Einen restriktiveren Weg geht nun die Stadt Wien und setzt auf Maßnahmen gegen Lkw ohne Abbiegeassistenten: Im Frühjahr 2020 soll ein Rechtsabbiegeverbot für alle Fahrzeuge über 7,5 Tonnen, die über kein entsprechendes System verfügen, mit einer Übergangsfrist von einem Jahr in Kraft treten, kündigte Verkehrsstadträtin Birgit Hebein gegenüber der APA an. Das komme einem De-facto-Fahrverbot für betroffene Gefährte gleich.

In Wien soll die Regelung, die formal eine Verordnung durch die MA 46 (Verkehrsorganisation) sein wird, im Frühjahr 2020 umgesetzt werden. Eine Übergangsfrist von einem Jahr soll es geben. Spätestens ab Frühjahr 2021 müssten aber alle Lkw in Wien mit Abbiegesystemen ausgestattet sein – und zwar unabhängig davon, ob sie in der Stadt selbst oder woanders zugelassen sind.

© ÖAMTC

Auch alle entsprechenden Fahrzeuge des stadteigenen Fuhrparks fallen unter die Vorgabe. Somit komme auch auf die rund 300 Müllfahrzeuge der MA 48 eine verpflichtende Nachrüstung zu.

Das von der Stadt Wien nun in Auftrag gegebene sogenannte Ermittlungsverfahren ist gewissermaßen die Vorarbeit für die eigentliche Verordnung. Relevante Stellen der Stadt sowie Arbeiter-und Wirtschaftskammer, Kuratorium für Verkehrssicherheit, Landespolizeidirektion, Autofahrerclubs und Interessensvertretungen von Radfahrern und Fußgängern würden mit einbezogen.

Im Zuge dessen wird etwa genau festgelegt, welche Anforderungen die akzeptierten Assistenten haben müssen oder wie hoch das Strafmaß bei Verstößen sein wird. Dieser Prozess wird ungefähr ein halbes Jahr dauern, sodass bis etwa Frühjahr 2020 die Verordnung erfolgen kann. Das Verbot wird dann im Amtsblatt und via Zusatztafel an den Ortstafeln veröffentlicht. Kontrollieren wird jedenfalls die Polizei.

Selbstständig handeln kann Wien dank einer Novelle der Straßenverkehrsordnung. Denn die StVO gibt Gemeinden die Möglichkeit, Rechtsabbiegeverbote für Lkw über 7,5 Tonnen ohne Abbiegeassistenten im gesamten Ortsgebiet, in Teilen davon oder in näher bestimmten Gebieten zu erlassen.

Daten des Verkehrsressorts zufolge sterben pro Jahr rund 20 Personen im Wiener Straßenverkehr. Davon wiederum sind die Hälfte entweder Radfahrer oder Fußgänger. Von diesen wiederum kommt rund ein Fünftel infolge einer Kollision mit einem rechtseinbiegenden Lkw zu Tode. Vor zwei Wochen kam in Wels eine Radfahrerin bei einem Verkehrsunfall bei einem Unfall mit einem Lkw ums Leben. Ein Lkw, der zunächst wegen Rotlichts an einer Kreuzung gehalten hatte, erfasste die 64-Jährige, die eine Radfahrerüberfahrt in gerader Richtung queren wollte.

Rundum-Sicht im Straßenverkehr

Das Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie (BMVIT) hat sich dieser heiklen Materie bereits 2017 angenommen und testet Abbiegeassistenten an Lkw und Bussen in einem Pilotversuch in Zusammenarbeit mit dem Institut für Fahrzeugsicherheit (VSI) der TU Graz. Das VSI der TU Graz beschäftigt sich umfassend mit Forschungen im Bereich der Transportsicherheit mit speziellem Fokus auf der Unfallforschung und Integrale Fahrzeugsicherheit. Die Pilotversuche zum Abbiegeassistenten mit dem Namen Rundum-Sicht im Straßenverkehr wurden im Herbst 2018 mit Bundesmitteln bis zum Frühjahr 2019 auf volle zwei Jahre verlängert, um – wie das VSI uns bestätigte – eine bessere wissenschaftliche Evaluierung zu gewährleisten.

Zur Erklärung: Abbiegeassistenten oder Abbiegeassistenzsysteme sind sicherheitswirksame technische Einrichtung in Kraftfahrzeugen, die Verkehrsteilnehmer als Radfahrer oder Fußgänger im direkten Umfeld am Fahrzeug erkennt und Lenker oder Lenkerinnen akustisch, optisch oder in sonstiger Weise warnt, um bei Bedarf eine Notfallbremsung einzuleiten.

 

Das vom BMVIT initiierte und vom Verkehrssicherheitsfond (VSF) teilfinanzierte Projekt soll die Gefahr von Unfällen mit Lkw und Bussen sowie deren immens großen toten Winkel minimieren. Österreichweit sind dabei 20 Fahrzeuge (15 Lkw und 5 Busse) mit einem Assistenten des Typs Mobileye Shield+ System ausgestattet und so in Graz, Wels und Wien hauptsächlich innerorts unterwegs. So konnten bisher unter anderem Unterschiede der Gefährdungszonen zwischen Lkw und Bussen erkannt, aber auch innerstädtische Gefahrenstellen verortet werden.

Hintergrund

Zur Erklärung: Abbiegeassistenten oder Abbiegeassistenzsysteme sind sicherheitswirksame technische Einrichtung in Kraftfahrzeugen, die Verkehrsteilnehmer als Radfahrer oder Fußgänger im direkten Umfeld am Fahrzeug erkennt und Lenker oder Lenkerinnen akustisch, optisch oder in sonstiger Weise warnt, um bei Bedarf eine Notfallbremsung einzuleiten.

Für Lkw-Abbiegeassistenten bietet die EU einen Rechtsrahmen. Die entsprechende Verordnung über Typengenehmigungen wird derzeit unter den Mitgliedsstaaten und im EU-Parlament verhandelt. Für die Einführung ist eine Vorlaufzeit notwendig. Für ein Inkrafttreten im Herbst 2024 muss zwei Jahre vorher – also 2022 – das entsprechende System in den Typenschein neuer Lkw eingetragen werden. Jeder Hersteller muss sich den Bauplan für sein neues Modell genehmigen lassen. Nur dann darf der Hersteller den Lkw bauen, 2024 kommt jeder neue Lkw mit dem „Blind Spot Information System“ auf den Markt.

Die EU-Kommission hat am 17. Mai 2018 einen Entwurf für eine „Verordnung über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen, Kraftfahrzeuganhängern und von Systemen, Bauteilen und selbstständigen technischen Einheiten für diese Fahrzeuge hinsichtlich ihrer allgemeinen Sicherheit“ – vorgelegt, in der sie elektronische Abbiegeassistenten für Lkw und Busse fordert.

Bei einem EU-Wettbewerbsfähigkeitsrat am 29. November des Vorjahres in Brüssel wurde eine Einigung auf die Eckpunkte erzielt. So wird in Annex II B6 des Verordnungsentwurfs das Blind Spot Information System – eine von Volvo entwickelte Technologie – als eine von mehreren Installationen zur Förderung der Verkehrssicherheit aufgezählt, einen eigenen ausformulierten Absatz dazu gibt es bisher nicht.

apa/red

INFObox: Das vom BMVIT initiierte und vom Verkehrssicherheitsfond (VSF) teilfinanzierte Projekt Rundum-Sicht im Straßenverkehr soll die Gefahr von Unfällen mit Lkw und Bussen sowie deren immens großen toten Winkel minimieren. Österreichweit sind dabei 20 Fahrzeuge (15 Lkw und 5 Busse) mit einem Assistenten des Typs Mobileye Shield+ System ausgestattet und so in Graz, Wels und Wien hauptsächlich innerorts unterwegs. So konnten bisher unter anderem Unterschiede der Gefährdungszonen zwischen Lkw und Bussen erkannt, aber auch innerstädtische Gefahrenstellen verortet werden.