10. Dezember 2017

Astronautin Haigneré: „Ich wurde unter wundervollen Sternen geboren“

STANDARD: Wie kommt man eigentlich darauf, Astronautin werden zu wollen?

Haigneré: Ich glaube, die Entscheidung lag irgendwo zwischen einem Traum und der richtigen Gelegenheit. Ich wurde unter zwei wundervollen Sternen geboren: dem Vertrag von Rom, eine der Gründungssäulen für die EU im März 1957, und dem Start von Sputnik im Oktober 1957. Die Sterne für eine europäische Karriere in der Raumfahrt standen also gut. Als ich dann mit zwölf Jahren die erste Mondlandung im Fernsehen sah, begriff ich, dass so ein Traum auch Wirklichkeit werden kann – und das hat ein Fenster in meinem Kopf geöffnet.,

STANDARD: Wie ging es dann weiter?

Haigneré: So etwas wie eine Astronauten-Schule gibt es ja nicht, also beschloss ich, Medizin zu studieren. Ein paar Jahre später habe ich dann einen Aufruf der French Space Agency gesehen, die nach Astronauten für Experimente auf der Weltraumstation gesucht haben. Das war der Moment, in dem sich Traum und Gelegenheit vermischt haben, und ich hatte nicht die geringsten Zweifel, dass ich es probieren musste.

STANDARD: Haben Sie sich jemals so gefühlt, als wären Sie nicht bereit?

Haigneré: Ich war sehr bereit! Das Training war lang und anstrengend und ich hatte zwei davon: zuerst als Back-up für meinen Mann und dann für meinen eigenen Flug. Bevor es losgeht, erzählen dir deine Kollegen natürlich, wie es sein wird, aber es ist trotzdem alles neu und aufregend. Du kannst noch so viel trainieren, alles wissen, aber nichts bereitet dich dann auf den Moment des Raketenstarts vor. Ich habe mich aber schnell an alles gewöhnt – Geschwindigkeit, Beschleunigung, verringerte Schwerkraft.

STANDARD: Erinnern Sie sich an einen besonderen Moment im All?

Haigneré: Zwischen der Realität auf der Erde und der während des Flugs liegt schon ein gewaltiger Unterschied. Es dauert acht Minuten bis man in die verringerte Schwerkraft kommt, und dann zwei Tage bis man bei der Raumstation angelangt ist. Dieser Moment, in dem man die Station größer und größer werden sieht, der war für mich unglaublich beeindruckend. Und dann ist da der Blick aus dem Fenster. Oder eigentlich aus zwei: Eines Richtung Erde, die einem so zerbrechlich vorkommt, das andere in den schwarzen Kosmos mit seinen Milliarden Sternen. Eine Erdumkreisung dauerte 90 Minuten. Das heißt, man macht das 16 Mal am Tag, inklusive 16 Sonnen- und Mondaufgängen. Das ist schon etwas wahnsinnig Schönes.

STANDARD: Sie haben von der Zerbrechlichkeit unseres Planeten gesprochen – sollte man sich in der Forschung mehr auf die Erde oder doch aufs Weltall konzentrieren?

Haigneré: Wir haben sehr viele offene Fragen auf der Erde. Ich würde aber sagen, dass das Weltall ein sehr guter Ort ist, um Lösungen für „irdische“ Probleme wie zum Beispiel den Klimawandel zu finden. Es gibt GPS-Ortungen, die das Alter von Gletschereis, oder die Höhe des Meeresspiegels bestimmen. Dazu kommt, dass man viele Versuche gar nicht auf der Erde unternehmen kann. Ich denke da zum Beispiel an das Testen von Schwerkraft. Auf der ISS (International Space Station, Anm.) gibt es massenhaft Labore für Strömungsphysik, DNA-Sequenzierungen, oder Physiologie und sogar Gefrierschränke, in denen man Proben aufbewahren kann. Und dann ist da noch der Aspekt der Inspiration für die Zukunft – die kann von der Forschung stammen aber auch von Abenteuern, die Menschen erleben.

STANDARD: Was war anders für Sie als eine der einzigen Frauen in der Raumfahrt?

Haigneré: Wenn man für eine Mission ausgewählt wird, dann konzentrieren sich alle nur auf den Erfolg der Mission. Das gilt auch für die Koordinierung von Herangehensweisen trotz der Unterschiede im Team. Nur die Raumanzüge waren nicht unbedingt an den weiblichen Körper angepasst. (An dieser Stelle zeichnet sie mit ihren Händen eine Linie in zehn Zentimetern Abstand zu ihrem Körper, um die Ausmaße des Raumanzugs darzustellen, plustert ihre Wangen auf und lacht)

STANDARD: Hat immer ein respektvolles Klima geherrscht?

Haigneré: Ja, auf jeden Fall. Ich würde sogar sagen, dass es für die Bodenkontrolle einfacher war, eine gemischte Crew zu haben, weil dann nicht eine Person die Kontrolle an sich gerissen hat.

STANDARD: Wäre eine komplett weibliche Besatzung eine gute Idee?

Haigneré: Vielleicht, aber wir sind sehr weit davon entfernt. Nur etwa zehn Prozent aller Astronauten sind Frauen. Als ich in den 70er-Jahren Medizin studiert habe, waren circa die Hälfte der Studenten weiblich, und ich hab mir gedacht „Ah, jetzt sind unsere Probleme endlich gelöst!“ Wir haben aber immer noch welche, zum Beispiel bei Gleichberechtigung auf einem höheren Level – da sind dann wieder nur etwa zehn Prozent weiblich. Frauen müssen aktiv und zielbewusst sein. Deswegen engagiere ich mich für „For Women in Science“.

STANDARD: Gibt es da einen Weg, den öffentlichen Diskurs etwas zu leiten?

Haigneré: Ich sage immer, dass es in unserem digitalen Zeitalter nicht mehr nur ums Informieren geht. Wir werden überschwemmt mit Daten, aus denen wir Infos herauslesen müssen. Deswegen wird es immer wichtiger für junge Forscher und Forscherinnen, das Ganze auch interpretieren zu können. Es geht nicht darum, auf alles eine Antwort zu haben, sondern darum, den Diskurs richtig zu führen! Ansonsten laufen wir Gefahr, zwei sterile Seiten einer Meinungsverschiedenheit zu haben. Parallel dazu wünsche ich mir einen Prozess, in dem die Rolle von Wissenschaft in der Gesellschaft reflektiert und auch über Unsicherheiten und Misserfolge gesprochen wird.

STANDARD: Ihre Karriere war ja sehr divers – von Medizin, über Raumfahrt und Politik, bis ins Management. Sehen Sie sich als eine Art Rebellin oder Vorbild?

Haigneré: Ich habe immer versucht, mich von einem Bereich für den anderen inspirieren zu lassen. Ich glaube, durch die vielen „Leben“, die ich gelebt habe, bin ich auch im Bildungssystem gut eingebunden. Wenn man sich zum Beispiel nur auf technologische Innovationen konzentriert, verpasst man neue Gelegenheiten oder glückliche Zufälle. Und Bildung ist der Schlüssel, um das zu verstehen. Ich drehe deshalb die Frage „Welchen Planeten wollen wir unseren Kindern überlassen?“ um und frage: „Welche Kinder wollen wir unserem Planeten überlassen?“ (Katharina Kropshofer, 8.12.2017)


Claudie Haigneré (60) lebt in Frankreich und kam im Rahmen der Stipendienverleihung „For Women in Science“ als Festrednerin nach Wien. Sie war an Bord von zwei Missionen, der Mir-Cassiopeé und ISS-Andromède, und wurde als erste europäische Frau auf der International Space Station ISS bekannt. Später hatte sie in Frankreich diverse Ämter inne, zum Beispiel auch als Ministerin für Forschung und Technologie.