Kategorie Innovation & Technologie - 19. August 2015

Industrie 4.0: TÜV Austria sieht Sicherheit als „Stiefkind“


APA/APA (dpa)

Dass die vollständig digital vernetzte Produktion auf dem Vormarsch ist, daran herrscht kaum noch Zweifel. In Österreich will die neu geformte „Plattform Industrie 4.0“ Strategien und Zielsetzungen erarbeiten und erste Pilotfabriken implementieren. Mit an Bord ist auch der Prüf- und Zertifizierungsdienstleister TÜV Austria, der vor allem in Fragen der Sicherheit in den digitalen Fabriken noch Aufholbedarf ortet.

Bevor Maschinen, Werkstücke und Produkte als sogenannte „Cyber Physical Systems“ autonom interagieren, miteinander kommunizieren und das gesamte Fertigungs- und Logistiksystem als virtuelles Modell mit dem realen System verschmilzt, sind noch viele Forschungsfragen offen: Wie zum Beispiel wird man mit der ungeheuren Datenflut umgehen, die in den Fabriken der Zukunft täglich anfallen werden? Wie integriert man Menschen und Roboter in ein gemeinsames Arbeitsumfeld? Und wie steht es mit der Datensicherheit?

„Das Thema Sicherheit ist ein Stiefkind. Das gibt uns den Freiraum, uns hier entsprechend zu positionieren“, erklärte Christoph Schwald, Innovationsmanager beim TÜV Austria, im Gespräch mit APA-Science. Im Mittelpunkt stehen dabei die Begriffe „Safety“ und „Security“, wie es im Fachjargon heißt. Während beim Safety-Aspekt im Wesentlichen der Umgang des Menschen mit der Maschine im Mittelpunkt steht, geht es bei Security eher um Fragen der IT-Sicherheit.

„Bei Industrie 4.0 kommen durch die starke Vernetzung diese beiden Themen sehr stark zusammen“, so Schwald. „Uns geht es darum, dass man einen sicheren Umgang zwischen Mensch und Maschine schafft, und das in integrierten Sicherheitskonzepten abbildet.“ Das beinhalte die komplette Fabrik plus sämtliche Schnittstellen nach innen und nach außen, also nicht nur die maschinelle, sondern auch die IT-Security an sich – darum kümmere sich beim TÜV unter anderen die Tochterfirma TÜV TRUST IT.

Kollaborative Robotik

Noch stehen die Industrieroboter hinter großen Zäunen, die sie von ihren menschlichen Mitarbeitern trennen. In der „kollaborativen Robotik“ der Industrie 4.0 sind diese Grenzen aufgehoben. Mensch und Maschine arbeiten unmittelbar zusammen. Die Roboter sind mit umfassender Sensorik ausgestattet, um den Menschen nicht zu gefährden. Neben diesem typischen „Safety“-Aspekt kommt dann wieder die IT-Security ins Spiel, so der TÜV-Austria-Experte: „Wie verhindert man, dass jemand das System von außen hackt und der Roboter den Arbeiter attackiert?“

„Momentan sind wir dabei, gemeinsam mit Partnern aus Forschung und Wissenschaft zwei große Projekte aufzustellen“, so Schwald. Dabei gehe es mit der „kollaborativen Robotik“, also der Interaktion von Mensch und Roboter und der „Migration von Industrie 3.0 zu 4.0“ um zwei Themen, die dem TÜV Austria generell ein strategisches Anliegen im Rahmen des Schwerpunkts Industrie 4.0 sind.

„Die Migration von Industrie 3.0 zu 4.0 ist sozusagen ein Transfermodell – was muss ich tun, dass mein 4.0-Konzept wirklich sicher ist, im Sinne von ’safe‘ und ’secure‘. Wir sind momentan in der Verhandlung des Kooperationsvertrages und wollen das im September finalisieren“, sagte der Innovationsexperte. Daneben beschäftige man sich intensiv und dezidiert mit der kollaborativen Robotik, konkret etwa mit der Frage, wie man eine Produktionszelle sicher macht und wie man sie auch wieder optimal in die Produktionsumgebung und -logistik einbaut.

Bei beiden Projekten gehe es unter Beteiligung von mehreren Forschungspartnern um Pilotfabriken. „In so einem Projekt werden wir dabei sein, um von vornherein das integrierte Sicherheitskonzept zu entwickeln“, erklärt Schwald. Details zu den Projekten sollen im Herbst bekannt gegeben werden.

Automatisierungstechnik als Vorläufer

Getrieben von der raschen Entwicklung in Deutschland als 4.0-Vorreiter kommen die heimischen Unternehmen zunehmend unter Zugzwang, sich an die neuen technologischen und sicherheitstechnischen Anforderungen anzupassen. „Österreich ist ein klassisches Zulieferland in der Produktion. Die Industrie, die das Thema als erstes beschäftigen wird, ist die Automatisierungstechnik, die komplexe Systeme in den deutschsprachigen Raum exportiert. Das was jetzt unter Industrie 4.0 diskutiert wird, ist für die eine sich schon seit Jahren abzeichnende Realität und ein evolutionärer Prozess“, so Schwald.

Der Prozess laufe allerdings in sehr großen Abstufungen ab, darum müsste die Masse der Komponentenzulieferer auch nichts überstürzen. Der Bedarf werde ohnehin immer vom nächst höheren Glied in der Wertschöpfungskette angestoßen. Keine Grund also zur Panik, bekräftigt der Innovationsmanager: „Nur weil eine Firma jetzt noch nicht vernetzt ist, wird die Qualität der Komponente ja nicht schlechter. Die wird zum Beispiel von Audi jetzt schon gekauft weil die Qualität gut ist. Und irgendwann wird Audi dann eben fordern, dass der Zulieferer seine Produkte besser nachverfolgt und RFID-Chips einbaut und nicht nur sein ERP (Enterprise-Resource-Planning)-System, sondern auch sein Manufacturing-Exzellenzsystem einführt.“

Beratung, Normen und Standards

Unsicherheiten entstehen bei neuen Systemen aber durchaus auf rechtlichem Gebiet – nach dem Motto: Darf ich dieses und jenes überhaupt im Rahmen der gerade gültigen Normen und Standards? „Momentan operiert man sehr stark mit der Maschinen-Sicherheitsrichtlinie. Der Standard hinkt natürlich dem Stand der Dinge immer hinten nach“, erklärt Schwald, und verweist auf die hauseigene Expertise: „Wir interpretieren die Spielräume. Da haben wir eine Handvoll ausgesuchter Experten, die das Know-how dafür haben.“

In Österreich könne man die Normenlandschaft allerdings nur wenig beeinflussen, Deutschland gebe den Ton an. In Normen-Kreisen sei der TÜV Austria an Bord, wenn es um die normativen Rahmenbedingungen für die Industrie 4.0 gehe. „Es gibt keinen Standard, der Industrie 4.0 heißt. Die Maschinen-Sicherheitsrichtlinie hat sehr viele Normen und Standards unter sich und die werden alle sukzessive nachgezogen“, so Schwald.

Weltweit gesehen gebe es in puncto Standards zwischen der europäisch geprägten Industrie 4.0 und der US-amerikanischen IIC-Initiative (Industrial Internet Consortium) eine Art Tauziehen. Während sich die europäische Welt eher von der Hardware-Seite nähere, konzentriere sich die amerikanische auf ihre Software-Stärke und die elektrischen/elektronischen Schnittstellen. Schwald: „Die Amerikaner definieren Software-Schnittstellen-Protokolle und die Europäer haben das Schichtenmodell ‚RAMI 4.0‘, ein Modell das hauptsächlich auf der Hardware-Interface-Ebene abbildet und auf der Migration von 3.0 zu 4.0.“ Die beiden Ansätze werden in Zukunft aber nicht nur konkurrieren, sondern sich ergänzen, glaubt der TÜV-Manager, der auch Mitglied einer der Arbeitsgruppen des Ende Juni offiziell gegründeten Vereins „Industrie 4.0 Österreich – die Plattform für intelligente Produktion“ ist.

Sechs Gründungsmitglieder

Gründungsmitglieder des Vereins sind das Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie (bmvit), die Industriellenvereinigung (IV), die Bundesarbeitskammer (AK), die Produktionsgewerkschaft (PRO-GE), der Fachverband der Maschinen- und Metallwaren-Industrie (FMMI) und der Fachverband der Elektro- und Elektronik-Industrie (FEEI), Vorstand ist Kurt Hofstädter, Leiter der Digital Factory Central Eastern Europe von Siemens Österreich.

Wie Michael Wiesmüller vom BMVIT gegenüber APA-Science erklärte, sollen zunächst vier Arbeitsgruppen Strategien und Fahrpläne für die Industrie 4.0 in Österreich erarbeiten. Derzeit würden sich die Gruppen thematisch auf „Mensch in der Produktion“ (Leitung Wilfried Sihn, Fraunhofer Austria), „Forschung, Entwicklung und Innovation“ (Stefan Rohringer, Infineon), „Kommunikation, Rahmenbedingungen und Analytik“ (Bruno Lindorfer, Business Upper Austria) und „Regionale Strategien“ (Wiesmüller, BMVIT) aufteilen.

Service: Details und Arbeitsschwerpunkte der ersten Pilotfabrik, die unter Federführung der Technischen Universität (TU) Wien in der Seestadt Aspern eröffnet wird, sowie Ausbaupläne für die kommenden Jahre und der Entwicklungsstand der Produktionswirtschaft bei „Industrie 4.0“ werden am 24. August in Aspern bekannt gegeben.